Zur Spiritualität von Rainer Maria Rilke

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Kurzvortrag auf der Jahrestagung 2007 der Internationalen Rilke-Gesellschaft in Bad Boll

 

Meine sehr verehrten Damen und Herren, 

lassen mich bitte ein Wort voranstellen zu meinem Wirken für Rilke in den letzten vier Jahren. Im Dezember 2003 fand hier in der Evangelischen Akademie Bad Boll die denkwürdige Tagung zum Thema "Rilke und Orpheus" statt. Als ich teilnahm, hatte ich bereits das Manuskript zu Rilkes "Duineser Elegien" in der Tasche. Es ist ein Jahr später als Buch erschienen. Im März 2004 begann mein Elegien-Projekt an der Hochschule für anthroposophische Pädagogik in Mannheim und meine Rilke-Präsenz im Internet. Ich wollte die "Duineser Elegien" möglichst "in ganz Deutschland" bekannt machen, weil ich so sehr davon überzeugt war und noch immer bin, dass Rilkes Dichtung Orientierung für viele Menschen geben könnte, die auf der Suche nach dem Sinn ihres Lebens sind. Menschen, die auf der Suche sind, zu helfen, ist mein besonderes Anliegen. 

Das Projekt gastierte inzwischen von Mannheim ausgehend in Neckarsteinach, Heidelberg, Nürnberg, Fürth, Erlangen, Bamberg und Nürtingen. Der Gitarrist Robert Lampis hat mich auf diesen Stationen mit seiner wunderbar einfühlsamen Musik begleitet. Im Sommer 2006 kamen sogar alle zehn Elegien zur Aufführung. Das bekannte Erlanger Café-Restaurant Muskat bildete mit einer Ausstellung von zeitgenössischen Malern, die zu Rilke gearbeitet haben, den würdigen Rahmen. Es handelte sich um Marita Hünsch, die zu den "Duineser Elegien" gemalt hat, um Peter Heinzelmann, der zu den französischen Gedichten gezeichnet und um Max G. Bailly, der vorwiegend mit Texten aus dem "Stundenbuch" gearbeitet hat. Ich habe mein eigene gesprochene Version der Elegien mit einer Aufnahme im Tonstudio der Universität Erlangen-Nürnberg dokumentiert. Man kann sie hier hören und bestellen.

Aus der Beschäftigung mit den "Duineser Elegien" ist mein zweites Buch über Rilkes französische Gedichte hervorgegangen. Es erschien 2005. Die "Poesie des einfachen Lebens" ist sozusagen eine Entdeckung Rilkes. Es braucht keine großartigen Inszenierungen, um das Glück zu finden. Einfache Dinge wie die Landschaft des Wallis, ein Garten, eine Rose, ein Fenster, können den aufmerksamen und ehrfürchtigen Betrachter am Geheimnis des Lebens teilhaben lassen. Es war mir eine große Freude, an die französischen Texte des späten Rilke anknüpfen zu können und das Buch in französischer Sprache zu schreiben. Ich habe es dann aus dem Französischen für deutsche Leser zurückübersetzt. 
Nun steht die Beschäftigung mit dem Thema der Tagung 2003 an, den "Sonetten an Orpheus" und hier schließt sich der Kreis. Ich suche Menschen, die sich in diese Dichtung vertiefen möchten und würde mich gerne mit ihnen austauschen. Bitte wenden Sie sich an mich, wenn Sie sich angesprochen fühlen. Es geht bei der Beschäftigung mit den Sonetten an Orpheus nicht darum, Wissen anzuhäufen, sondern sich ansprechen, ja anrühren zu lassen und die eigene Betroffenheit in Worte zu fassen. Dann erst wird das von der Forschung zusammen getragene Wissen wichtig und muss zusammen gefasst werden.


Nun zum eigentlichen Thema.
Der Dichter ist immer auch ein Spezialist für neue Wahrnehmungen, so könnte man etwas salopp formulieren. Er fühlt die Dinge der Wirklichkeit tiefer, er sieht sie umfassender und er hört sie intensiver. Er ist sich der Tatsache bewusst, dass die menschliche Existenz von der kosmischen Stille geprägt wird. 
Diese dichterische Wahrnehmung hat sehr viel mehr mit Spiritualität zu tun, als gemeinhin angenommen. Das ganzheitlich umfassende und letztlich positive Lebensverständnis Rilkes ist ja nicht einfach von Natur aus gegeben, sondern musste in leidvoller Erfahrung erst gewonnen und im Geiste erarbeitet werden. Rilke hat sehr früh schon die volle Verantwortung für sein Leben in seine eigene Hand genommen. Und er hat nie aufgehört, an sich selbst und an seiner Beziehung zur Welt zu arbeiten. Sein Hauptbemühen war es, die Herausforderungen, die das Leben an ihn stellte, zu erkennen und sich dafür immer wieder von neuem zu öffnen. Die spirituelle "Arbeit" wurde von ihm als Gespräch mit Gott, als Gebet, als Hören in die Stille, als Sprechen mit der fernen Geliebten und natürlich im Dichten verwirklicht. 

Die umfassende Sichtweise auf das Leben und die daraus resultierende Tiefe der Wahrnehmung, mit der der Dichter uns immer wieder von neuem überrascht, lässt sich allerdings nicht nur als Ergebnis der Arbeit an sich selbst begreifen. Sie stellt auch ein Geschenk dar. Der Dichter nimmt dieses Geschenk an und geht mit seiner besonderen Begabung der Gestaltung darauf ein. 
Es ist ja wohl doch so, dass der einzelne Mensch erst beim geistigen Erwachen bemerkt, wie sehr sein Geist in einer Art Käfig eingeschlossen ist. Dann wird seine Seele für Augenblicke wach und frei. Sie schwingt sich in die Tiefe des Seins. Von dort kommt sie zurück und bereichert das Bewusstsein mit Bildern, Symbolen, Gedanken und Ideen, die die Seele ansprechen und ihr Nahrung geben. 

Es gibt also gewisse spirituelle Bedingungen für das Erlangen poetischer Tiefe. Man kann sie bei Rilke besonders gut studieren, weil er sie rein ausgeprägt hat. Lassen Sie mich einige benennen. 
Die erste und wichtigste Bedingung ist, dass der Mensch die Not, den Schmerz, die Krankheit, den Tod, die Einsamkeit und das Alter nicht flieht, sondern sich ihnen stellt und sie annimmt. Im Moment des Leidens erhält der Mensch das Angebot, ein Leidensgenosse der Menschheit zu sein. Wenn er dieses Angebot annimmt, wird sein Empfinden mit jener Tiefe beschenkt, die wir an Rilkes Poesie so maßlos bewundern. Rilke erreichte diesen Punkt während seines Paris-Aufenthaltes, als er sich mit kranken, armen und blinden Menschen am Rande der Gesellschaft solidarisierte. Er überwand sein bis dahin begrenztes Denken und fand zu einem neuen, umfassenden Ja zum Leben auch mit seinen Schattenseiten. Die Auseinandersetzung mit dem Tod spielte dabei eine besondere Rolle. Das "Schlussstück" am Ende des "Buches der Bilder" gibt davon Kunde. 
Jetzt ging es für Rilke darum, unter der Regie von Rodin zu lernen, die Existenz der Dinge in der Wirklichkeit zu studieren. Wir sehen ihn also mit dem Notizbuch in der Hand am Hopital Dieu, am Quai der Seine, im Jardin du Luxembourg und im Jardin des Plantes umherschweifen. Rilke lernte, von sich selbst und seinen Leiden abzusehen und die Dinge rein wahrzunehmen. Er öffnete sich für die Mitmenschen und sah davon ab, sie vorschnell zu beurteilen. Diese Übung der Wahrnehmung in der Pariser Zeit brachte ihm das Erlebnis eines bereicherndes und schöpferisches Fließen der inneren Gestaltungskräfte, das nicht von ihm, sondern von den Dingen selbst zu kommen schien. 

Zum Ernstnehmen der Wirklichkeit kam als dritte Bedingung die Beschränkung auf das, was gegeben ist, hinzu. Ich meine die Fähigkeit zur Selbstgenügsamkeit. Sie zeichnet diejenigen Menschen aus, die zu Opfern bereit sind, weil sie die Unabhängigkeit ihres geistigen Lebens höher als Ansehen und Wohlstand schätzen. 
Es gäbe, wie gesagt, noch sehr Vieles über die intensive spirituelle Suche von Rilke zu berichten. Wir wissen, dass Rilke die Mystik-Literatur des Mittelalters sehr gut gekannt hat. Wir wissen, dass er zeitweise dem Spiritismus zuneigte und sich dort manche Inspiration geholt hat. Die Gespräche mit Rudolf Kassner, mit Marie von Thurn und Taxis und die von ihm besuchten Vorlesungen Alfred Schulers mögen hier für diese Zusammenhänge stehen. 
Doch wichtiger noch erscheint mir, dass Rilke die mystische Suche nicht nur im Wissenwollen verwirklichte, sondern dass er sie gelebt hat und dass es ihm gelungen ist, eine neue spirituelle Tiefen-Wahrnehmung der Dinge in der Sprache zu gestalten. Rilkes spirituelle Poesie baut uns noch heute Brücken zu einen ganzheitlichen Verständnis des Lebens. 

Rilkes Gedichte strahlen deshalb eine schwer fassbare, aber im Innersten begründete Spiritualität aus. Sie bildet die geheime Antriebskraft seiner Dichtkunst. Viele Menschen nähern sich der Poesie Rilkes aus diesem Grunde, weil sie die spirituelle Dimension fühlen. Diese Dimension erschließt sich aber erst mit der Zeit. Rilkes Gedichte brauchen viel Zeit. Dann können sie ihr Aroma in der Tiefe des Empfindens entfalten. 
Von früheren spirituellen Annäherungen der Literaturwissenschaft wie z.B. der von Romano Guardini unterscheidet sich mein Verständnis von Spiritualität in einigen Punkten. Spiritualität ist nicht dasselbe wie Religion. Spiritualität kann auch ohne eine Anbindung an die Religion entstehen. Sie ist Ausdruck einer individuelle Frömmigkeit. Ihre Antriebskraft ist die Suche nach dem Sinn des Lebens. Die Frage nach dem Sinn des Lebens wird aus der Krise geboren, in die der Mensch hinein gerät, der mit dem Nichts konfrontiert wird. Spiritualität bahnt einen Weg aus dem Nichts. Sie sehnt sich nach dem Heiligen, Heroischen und Göttlichen. Sie sucht nach dem eigentlichen Wissen, das wir "Weisheit" nennen. 
Rilke ist für mich einer der großen spirituellen Pioniere des 20. Jahrhunderts. Hermann Hesse wäre in diesem Zusammenhang ebenfalls zu nennen. Hesse war ja nur zwei Jahre jünger als Rilke. Hesse und Rilke haben das Denken um Empfinden aus der Enge der überlieferten religiösen Doktrin befreit und mit ihrer Poesie und Philosophie den Menschen in eine neue Weite des Existierens hinein gestellt. 

© Dr. Johannes Heiner, September 2007