Rainer Maria Rilke als Mystiker
Der Artikel ist in dem Buch abgedruckt: Peter Lengsfeld (Hg.): Mystik - Spiritualität der Zukunft. Erfahrung des Ewigen. Herder 2005 S.390 - 404
Gliederung:
1. Die beiden Prosa-Texte "Erlebnis" von 1913
2. Rilkes "Gedichte an die Nacht" von 1913 und 1914
3. Die "Weltraum-Mystik" in den "Duineser Elegien"
4. Bewertungsprobleme
"Höre mein Herz, wie sonst nur
Heilige hörten: daß sie der riesige Ruf
aufhob vom Boden; sie aber knieten,
Unmögliche, weiter und achtetens nicht:
So waren sie hörend. Nicht dass du Gottes ertrügest,
die Stimme, bei weitem. Aber das Wehende höre,
die ununterbrochene Nachricht, die aus Stille sich bildet."
Rainer Maria Rilke, Die erste Elegie
Das lyrische Werk Rainer Maria Rilkes gilt zurecht als europäische Weltliteratur; den Malte-Roman darf man getrost hinzuzählen. Weniger bekannt sind die französischen Gedichte, die Rilke nach Vollendung der "Duineser Elegien" und der "Sonette an Orpheus" geschrieben hat. Es wird davon noch die Rede sein. Die Lektüre der Gedichte Rilkes bereitet immer wieder Vergnügen. Man kann sich von ihnen berühren lassen und in die Tiefe gehen. Sie regen den künstlerischen Gestaltungswillen an und öffnen den Geist für das Ganze des Lebens.
Unbestritten ist auch die mystische Qualität vieler Gedichte von Rilke. Doch ist damit noch nicht gesagt, dass es sich um authentische Zeugnisse mystischer Erfahrung handelt. Die mystische Erfahrung steht m.E. im Hintergrund der Texte; sie geht in die Texte ein, lässt sich an den Texten aber nur schwer belegen. Der dichterische Ausdruck und die ästhetische Gestaltung verwandeln den mystischen Erlebniskern in eigener Weise. Es wird deshalb sorgfältiger Abwägungen bedürfen, wenn man über den mystischen Erfahrungsgehalt von Rilkes dichterischem Werk spricht.
Es ist eine erstaunliche Tatsache, dass Rilke seine Erfahrungen mit denselben poetischen Bildern vom Beginn seines Dichtens an bis zur Vollendung in den Duineser Elegien und den Sonetten an Orfeus ausgedrückt hat. Schon der Zwanzigjährige spricht in immer neuen Bildern das Gefühl des Einswerden mit der Natur aus. Das lyrische Ich verwandelt sich in die Zweige eines Baumes, "schenkt sich dem Wind zu eigen" und "horcht zitternd in den Mai hinein" ("Und so ist unser erstes Schweigen" aus "Mir zur Feier" von 1898). Er "hört" die Dinge, wie sie "singen" ("Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort") und gibt sich ihnen im Schweigen hin, auch wenn sie ihm seinen Namen nehmen ("Mir ist, als ob mir irgendwer / jetzt leise meinen Namen nähmeÉ"). Das große Thema dieser Lyrik ist der Abend. Der Abend ist ein Bild für die Schwelle zum Unbekannten. Er weckt die Erwartung, dass etwas geschehen möge, das das Fremdsein aufheben könnte ("Aber der Abend wird schwer"). Auch der "Engel", die "Nacht" und andeutungsweise auch "Gott" sind schon als Motive vorhanden und werden fünfundzwanzig Jahre später in den "Duineser Elegien" von 1922 zu einem künstlerischen Höhepunkt geführt.
Diese Konstanz vom Anfang der Dichtung bis zu ihrem Höhepunkt im Elegienwerk ist aber nur ein Phänomen an der Oberfläche. Es sind zwar dieselben Wörter: Abend, Nacht, Engel, Natur, Sehnsucht nach Leben; sie erhalten aber durch den spirituellen Tiefgang des Dichters in den Jahren 1910 bis 1922 neue Bedeutung. Gleich am Anfang der ersten Elegie tritt "der Engel" auf und wird - nebst Orfeus in den Sonetten - zum modernen Mythos erhoben; er ist schon lange kein Schutzengel mehr, der da angerufen wird, sondern ein Engel der Nacht. Auch das Natur-Erlebnis der Jugendlyrik kehrt in der ersten Elegie als "Baum am Abhang" wieder und spendet Trost. Die "Nacht" - nicht mehr der Abend - tritt als drittes Motiv auf - und im Zuge der Nacht kommen sowohl die "Leere", als auch der Weltraum und die Sterne.
Rilkes spirituelle Entwicklung, so meine These, gipfelt in der Erfahrung der "Nacht". Der mystische Kern der Nacht-Methapher besteht in der Erfahrung des Nichts. Mit dem Begriff "Leere" werden die Gefühle Einsamkeit, Fremdheit, Verlassenheit und Verzweiflung angesprochen. Mit "Weltall" wird die Aufgehobenheit im umfassenden Ganzen angedeutet. "Das Nichts" ist mein eigener, beide Dimensionen der "Nacht" und der "Leere" umschließender Begriff. Er entspringt meiner eigenen Erfahrung aus den Jahren meiner Selbstfindung
Es bedarf einer gewissen Orientierung in der spirituellen Landschaft des Dichters, wenn man einzelne Beobachtungen am Text einordnen und bewerten möchte. Ich gebe deshalb einen groben Überblick. Man möge es mir nachsehen, wenn einiges schon bekannt ist.
Den ersten großen Frömmigkeitsschub bringen die beiden Russlandreisen um die Jahrhundertwende. Es ist ja allgemein bekannt, dass Rilke durch Lou zur Liebe gefunden und Russland seine Religiosität beflügelt hat. Im "Stundenbuch" bewältigte der überwältigte Dichter seine Eindrücke, Erfahrungen und Fantasien. Der zweite große Schub setzte in Paris ein, wo Rilke sich von 1902 bis 1914 - mit Unterbrechungen - aufgehalten und von Rodin, seinem spirituellen und künstlerischen Lehrer, gelernt hat. In Paris lernte er die Realität der modernen Großstadt kennen. Das dritte Buch "Von der Armut und vom Tod" aus dem "Stundenbuch" legt davon ein beredtes Zeugnis ab. Der Malte-Roman meistert literarisch die Konfrontation mit dem Realitätsprinzip. Malte stirbt, aber Rilke darf leben. Allerdings mit großen Schwierigkeiten, die daraus resultieren, dass unter dem Druck der Realität die schwärmerischen Illusionen des jungen Rilke zerplatzen und neue Bilder noch nicht in Sichtweite sind. Rilke begegnet dem Nichts und erfährt ganz real die Verlassenheit und Verzweiflung des einsamen Menschen (z.B. "Der Ölbaum-Garten"). Es gibt keine von außen helfende Kraft, die den Menschen von sich aus zu sich hochzöge. Er muss es allein vollbringen - oder untergehen. Wir befinden uns jetzt, bildlich gesprochen, im dritten Stadium der spirituellen Entwicklung Rilkes. Ich würde von "Mystik" erst in dieser Zeit seiner Lebenskrise und der Meisterung der Realität sprechen. Die Jugendlyrik würde ich eher dem poetischen "Mystizismus" und literarischen Jugendstil zuordnen. Nach der Bewältigung der Realität kommt das Aushalten im Nichts. An einem bestimmten Punkt entdeckte Rilke in der Leere die Fülle. Die "Gedichte an die Nacht" belegen diese Wendung.
Eine letzte Entwicklung sehe ich in den französischen Gedichten, die Rilke von 1922 bis 1926 geschrieben hat. Schon während des Schreibens an der neunten Elegie am 9. Februar 1922 kündigt der Dichter das neue spirituelles Konzept der Einfachheit an ( "Preise dem Engel die Welt, nicht die Unsägliche"). Die "Sonette an Orpheus" bekräftigen es ("Ist er ein Hiesieger?"). Die französischen Gedichte setzten es um. Rilke fand in der Lyrik-Sprache von Paul Valéry das Instrument, das er brauchte, um das Alltägliche für die Erfahrung des Göttlichen durchsichtig zu machen. Es sind Begegnungen mit den Dingen der Landschaft, des Himmels und den Menschen des Wallis. Und die Erleuchtung? Hat Rilke denn eine zentrale Erfahrung gemacht, aus der sich der mystische Gehalt seiner Dichtung sozusagen schlüssig ableiten ließe? Mit dieser Frage wende ich mich meinem eigentlichen Thema zu. Ich werde die beiden Prosa-Texte "Erfahrung" vorstellen und mich dann dem Ringen Rilkes mit dem Nichts in der dritten Phase seines Weges nach innen zuwenden. Aus diesem Ringen gehen die strahlenden Klänge der siebten, neunten und zehnten Elegie hervor.