2. Die Ich-Findung

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Das Kernzitat

„In der Nacht träumte ich (sc.Sinclair spricht) von Demian und von dem Wappen (sc.über der Haustüre hängt, von Sinclair bislang unbeachtet, das Bild eines Raubvogels). Es verwandelte sich beständig. Demian hielt es in Händen, oft war es klein und grau, oft mächtig groß und vielfarbig, aber er erklärte mir, dass es doch immer ein und dasselbe sei. Zuletzt aber nötigte er mich, das Wappen zu essen. Als ich es geschluckt hatte, spürte ich mit ungeheurem Erschrecken, dass der verschlungene Wappenvogel in mir lebendig sei, mich ausfülle und von innen zu verzehen beginne. Voller Todesangst fuhr ich auf und erwachte."

Sinclair malt den Vogel auf ein Papier. Am nächsten Morgen findet er das Papier auf dem Boden liegen. Er schildert den Inhalt des Bildes mit den folgenden Worten: „Der Vogel stand oder saß auf etwas, vielleicht auf einer Blume, oder auf einem Korb oder Nest, oder auf einer Baumkrone. Ich kümmerte mich nicht darum und fing mit dem an, wovon ich eine deutliche Vorstellung hatte. Aus einem unklaren Bedürfnis begann ich gleich mit starken Farben, der Kopf des Vogels war auf meinem Blatte goldgelb. Je nach Laune machte ich daran weiter und brachte das Ding in einigen Tagen fertig.

Nun war es ein Raubvogel, mit einem scharfen, kühnen Sperberkopf. Er stak mit halbem Leibe in einer dunkeln Weltkugel, aus der er sich wie aus einem riesigen Ei heraufarbeitete, auf einem blauen Himmelsgrunde. Wie ich das Blatt länger betrachtete, schien es mir mehr und mehr, als sei es das farbige Wappen, wie es in meinem Traum vorgekommen war.

Einen Brief an Demian zu schreiben, wäre mir nicht möglich gewesen, auch wenn ich gewußt hätte wohin. Ich beschloss aber, in demselben traumhaften Ahnen, mit dem ich damals alles tat, ihm das Bild mit dem Sperber zu schicken, mochte es ihn dann erreichen oder nicht. Ich schrieb nichts darauf, auch nicht meinen Namen, beschnitt die Ränder sorgfältig, kaufte einen großen Papierumschlag und schrieb meines Freundes ehemalige Adresse darauf. Dann schickte ich es fort."

Einige Tage später erhält Sinclair eine Antwort von Demian. Demian läßt seinen Freund wissen:

„Der Vogel kämpft sich aus dem Ei. Das Ei ist die Welt.
Wer geboren werden will, muss eine Welt zerstören. Der Vogel fliegt zu Gott. Der Gott heißt Abraxas.“

In seinem im Jahre 1919 erschienen Roman „Demian“ schildert Hesse, wie Sinclair, ein Jugendlicher und Schüler, allmählich zum Erwachsensein hingeführt wird. Erwachsen zu sein bedeutet psychologisch gesehen, dass der Jugendliche eine gewisse Unabhängigkeit gegenüber den Eltern, den Lehrern und sonstiger Autoritätsfiguren, erreicht hat. Ist ein schmerzlicher Prozess der Selbstfindung. Bedeutet auch, zu wissen, was man im Leben erreichen will. Beinhaltet die Erfahrung des Alleineseins und der Not. Ist die Erkenntnis, dass niemand einem wirklich helfen kann, wenn man in eine Notsituation gerät.

Mit diesen Wörtern: Selbständigkeit, Unabhängigkeit, Freiheit, Verantwortung für das eigene Leben, Selbsterkenntnis versuche ich den komplexen Prozess der Identitätsfindung beim jugendlichen Menschen zu umschreiben. Wir dürfen davon ausgehen, dass Hesse in den Jahren der Entstehung des Romans der Findung des eigenen Ichs erneut durchlaufen und auf die Hauptfigur Sinclair übertragen hat. In den Figuren des Demian und Pistorius hat er seine eigenen Seelenführer aus dieser Zeit, den Psychoanalytiker und Jungschüler Lang und C.G.Jung selbst, dargestellt.

Die oben zitierte Textstelle aus dem Roman verdichtet und gestaltet den Prozess der Ich-Findung im „Demian“ im Symbol der Sperbers, der aus dem Ei ausbricht. Das Bild ist nicht schwer zu deuten. Es leuchtet unmittelbar ein, dass der Sperber für den männlichen Jugendlichen steht, der es endlich schafft, sich aus der Geborgenheit des Elternhauses zu befreien. Die Kinder werden „flügge“, so sagt die deutsche Sprache. Dass Hesse einen Sperber, einen Raubvogel als Symbol gewählt hat, wird aus seiner Lebenserfahrung verständlich. Er zählte bereits 42 Jahre, als er den Roman veröffentlichte. Und er hatte gerade die Krise seiner Lebensmitte gemeistert.

Ich habe dieses Kapitel mit „die Geburt“ des Ichs überschrieben, weil dies das Hauptthema im „Demian“ ist und weil das eben erläuterte Symbol des Sperbers, der die Eierschale durchbricht, ja genau den Vorgang des Geborenwerdens darstellt.

Es ist jedoch die Frage, ob es von der Sache her berechtigt ist, von einer „Geburt“ zu sprechen und in manchen Fällen sogar von einer „schwierigen“ Geburt. “Geburt“ wird als Bild für einen geistigen Vorgang verwendet, in dem das Ich des Menschen Gestalt annimmt. Man kann diese Gestalt nicht sehen und auch nicht anfassen. Doch in der Seele besteht sie als Realität, die möglicherweise sogar das körperliche Leben überdauern wird. Sicher, es gibt nur eine natürliche Geburt, aber es gibt zahlreiche geistige Geburten der Seele zu immer neuen Stufen des Lebens. Das große Thema Hesses schlechthin.

Die Eltern verfolgen den Prozess der Ich-Findung ihres Kindes mit großen Ängsten, weil er sich gegen sie selbst zu richten scheint. Doch die Eltern sind nie eigentlich als Personen gemeint. Sie geben nur den Spiegel ab und der Jugendlich steht davor und sagt: so wie die Mutter will ich nicht werden und so wie der Vater auch nicht -  und wie will ich denn nun sein? Das Nein-Sagen zu den - in Wirklichkeit geliebten - Eltern gehört zum Prozess der Identitätsfindung dazu. Die Eltern sind gut beraten, wenn sie die Kritik, Ablehnung und Distanzierung durch den/die Jugendlichen aushalten, ohne ihm und ihr das Vertrauen zu entziehen. Der Prozess kann dann sozusagen auf natürliche Weise ablaufen und es werden keine Seelenführer vonnöten sein. Seelenführer wie Demian und in abgemilderter Form Pistorius - Sinclair durchschaut das Treiben des Pistorius ziemlich schnell - treten erst dann auf den Plan, wenn der „natürliche“ Prozess in irgendeiner Weise gestört wird und die Jugendlichen sich die Hilfen, die sie brauchen, um sich weiter zu entwickeln, von „auswärts“ holen müssen.

Die andere Abweichung von der normalen Entwicklung besteht darin, dass der Erwachsene in der Lebensmitte, wenn seine bisherigen Bestrebungen in die Krise geraten, diejenigen Teile des Prozesses sozusagen nachholt, die er als Jugendlicher nicht durchmachen konnte. Hierher gehört wahrscheinlich auch der Fall von Hermann Hesse selbst.

 

Ich zitiere aus der Vorrede des Autors zum „Demian“:

„Das Leben jedes Menschen ist ein Weg zu sich selber hin, der Versuch eines Weges, die Andeutung eines Pfades. Kein Mensch ist jemals ganz und gar er selbst gewesen; jeder strebt dennoch, es zu werden, einer dumpf, einer lichter, jeder wie er kann. Jeder trägt Reste von seiner Geburt, Schleim und Eischalen einer Urwelt, bis zum Ende mit sich hin. Mancher wird niemals Mensch, bleibt Frosch, bleibt Eidechse, bleibt Ameise. Mancher ist oben Mensch und unten Fisch. Aber jeder ist ein Wurf der Natur nach dem Menschen hin. Und allen sind die Herkünfte gemeinsam, die Mütter, wir alle kommen aus demselben Schlunde; aber jeder strebt, ein Versuch und Wurf aus den Tiefen, seinem eigenen Ziele zu. Wir können einander verstehen; aber deuten kann jeder nur sich selbst.“


Das Habicht-Symbol

Der Roman „Demian“ erläutert immer wieder das von Hesse geschaffene Symbol des Habichts. Außer den beiden eingangs zitierten Stellen gibt es mindestens vier weitere im Fortgang des Romans, die das Symbol in seiner Tiefe gestalten.

Das Symbols des Sperbers, der sich aus dem Ei befreit, so viel dürfte schon klar sein, verweist auf die Notwendigkeit der Vereinzelung. Nach Hesses Meinung bleibt es keinem Menschen erspart, nach dem Sinn seines Lebens zu suchen und sich selbst zu definieren. Spätestens in der Krise der Lebensmitte greift dieser Prozess um sich.

Das Symbol besitzt verschiedene, von Hesse sehr geschickt in die Romanhandlung eingewobene Bedeutungsschichten, die man auseinander halten sollte. Die erste Schicht sehe ich in der Bedeutung für die persönliche Entwicklung Sinclairs. Dem Jugendlichen wird hier ein Idealbild vor Augen gestellt, auf das hin er sich entwickeln will. Das Essen des Wappentiers deutet dies an. Das Ziel, ein „Raubvogel“ zu werden, muss erst einmal in die Psyche integriert werden. Frau Eva drückt diesen Gedanken in dem Satz aus: „Man muss seinen Traum finden, dann wird der Weg leicht“ (S.138).

Eine zweite, hinter der ersten verborgenen Schicht, verweist auf den Traum vom Fliegen. Sinclair - und mit ihm jeder Jugendliche - fasst mit dem Traum vom Wappenvogel den Wunsch, sich sozusagen in den offenen Himmel zu erheben. In dieser Bedeutung verweist das Symbol auf archetypische Konstanten in der menschlichen Seele (Hinweis auf C.G. Jung).

Eine dritte Schicht ergibt sich dem Romanschluss. Hier wird das Wappentier zu einem Riesenvogel erhoben, der sich aus den Trümmern der Welt befreit. Diese Gestaltung des Symbols ist auf die Situation nach dem Ersten Weltkrieg im Jahre 1919 bezogen. Hesse gestaltete den  Wunsch, dass es gelingen möge, die Welt aus den Trümmern zu befreien, in einem allgemein gültigen Bild. Die große Wirkung des Romans geht sicher auch darauf zurück, dass es Hesse mit diesem Buch gelungen ist, Symbole für die Erneuerung des Menschen zu gestalten.

Interessant und mehrdeutig ist der offene Schluss des Romans. Offen ist, ob Demian gestorben ist oder einfach nur woanders hingebracht wurde. Die Freunde Sinclair und Demian sehen sich in einem Feldlazarett nur für Augenblicke wieder. Am nächsten Morgen ist der Platz im Feldbett Demians leer. Sinclair gibt zu verstehen, dass das Verschwinden Demians nicht gar so schlimm sei, weil er ihn gewissermaßen verinnerlicht habe. Sinclair hat es endlich erreicht, sich seinem Vorbild anzugleichen. Das Traumbild vom Sperber hat ihn dabei begleitet und unterstützt.

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