Die sieben Leben des Josef Knecht

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Eine Betrachtung zu den posthum veröffentllichten Lebensläufen

 

Diese Betrachtung möchte Sie als Leserin und Leser mit auf eine Reise durch die zahlreichen Anläufe nehmen, die Hesse von 1932 an unternahm, um zur heutigen Gestalt des „Glasperlenspiel“ zu gelangen. Ich verspreche mir davon, dass der Zusammenhang zwischen den Lebensentwürfen deutlich wird, und vor allem, dass klar wird, was für einen steilen Weg Hesse, als er 1938 endlich zur Niederschrift der zwölf Kapitel gelangte, die den kastalischen Lebenslauf von Josef Knecht ausmachen, zurück gelegt hat. Der zuletzt geschriebene „kastalische Lebenslauf“ ragt als hoher Berggipfel aus den Lebensentwürfen hervor.

 

 

Die „historischen“ Lebensläufe

 

Hesse schrieb von 1932 bis 1934 an der „Einleitung“ zum Glasperlenspiel. Die vierte Fassung wurde im „Mai/Juni 1934“ fertig (Volker Michels in seinem Nachwort SW Bd. 5, S. 712). Hesse brachte ihn im Dezember 1934 in der „Neuen Rundschau“, Berlin, unter. Die Leserinnen und Leser Hesses in Deutschland wussten also, dass ihr „Meister“ zu neuen Ufern unterwegs war.

 

Es ging Hesse nun darum, seine grundlegende Darstellung zu „realisieren“. Es konnte ja nicht genügen, ein Ideengerüst zu entwerfen. Die Ideen mussten in eine erzählbare Handlung umgesetzt werden. Dazu brauchte er einen Namen und eine Hauptfigur, Personal zum Interagieren, und ein bestimmtes Land als Ort der Verwirklichung auf Erden. Zum „kastalischen Lebenslauf“, dem siebten in meiner Zählung, stieß er erst 1938 vor und vollendete ihn in den zwölf Kapiteln aus dem „Glasperlenspiel“, die uns vorliegen. Die vielen Anläufe des Schriftstellers Hesse sind in den vorherigen sechs Lebensentwürfen enthalten. Drei davon wurden von Hesse in den Anhang zum „Glasperlenspiel“ gestellt. Es handelte sich um den „Regenmacher“ von 1934, den „Beichtvater“ von 1936 und den „Indischen Lebenslauf“, ebenfalls von 1936. Die drei anderen Lebensläufe sind Fragment geblieben. Es ist der „Tessiner Lebenslauf“ von 1932 und die beiden Entwürfe zum „Schwäbischen Lebenslauf“ von 1934. Sie sind erst nach Hesses Tod veröffentlicht worden.

 

 

Verankerung im „Glasperlenspiel“

 

Die drei im „Glasperlenspiel“ veröffentlichten Vorleben Josef Knechts werden vom Erzähler des „Glasperlenspiels“, der anonym bleiben möchte, im Kapitel „Studienjahre“ ausführlich kommentiert. Er führt dort aus, dass den Lebensläufen der Reinkarnationsgedanke zugrunde liegt. Josef Knecht hatte sich während seiner Zeit als Student zunächst in die Rolle des Schamanen eines Naturvolks versetzt („Der Regenmacher“). Dann hat er die Rolle eines Wüstenvaters aus dem 3. oder 4. Jahrhundert nach Christus beleuchtet. Die Wüstenväter folgten Jesus in die Einsamkeit der Wüste, um bessere Menschen zu werden und sich ungestört von äußeren Einflüssen der Nachfolge des Herrn zu überlassen („Der Beichtvater“). Im dritten Lebenslauf schließlich begab sich Josef Knecht nach Indien („Indischer Lebenslauf“).

 

Der Reinkarnationsgedanke spielt also eine zentrale Rolle in der Aufgabe des Studenten Josef Knecht, sich in fremde Kulturen zu versetzen. Er wird vom Erzähler des kastalischen Lebenslaufs allerdings heruntergespielt. „Dies war nun freilich nicht etwa ein Glaube im strengen Sinn, noch viel weniger war es eine Lehre; es war eine Übung, ein Spiel der Imaginationskräfte, sich das eigene Ich in veränderten Lagen und Umgebungen vorzustellen.“ (SW 5, S.150 ff.) Man wollte das poetische Gestaltungsbedürfnis der Jünglinge ansprechen und kanalisieren. Die Oberen, bei denen die Lebensläufe abzugeben waren, erwarteten vom Anfertigen eines Lebenslaufs ein Mehr an Selbsterkenntnis. Es heißt dort weiter, dass Josef Knecht möglicherweise weitere Lebensläufe verfasst hat, die verschwunden seien. Und der Erzähler führt dann aus, dass es „einen Lebenslauf aus dem achtzehnten Jahrhundert“ gegeben habe. „Josef Knecht wollte darin als schwäbischer Theologe auftreten, der den Kirchendienst später mit der Musik vertauscht, der ein Schüler Johann Albrecht Bengels, ein Freund Oetingers und eine Weile als Gast der Gemeinde Zinzendorfs war.“ (SW, S. 153)

 

An dieser Stelle möchte ich das Ziel meiner Reise durch die Landschaften der Lebensläufe Knechts eingrenzen. Ich beschränke mich in der Hauptsache auf die drei posthum veröffentlichten Lebensentwürfe. Wer mehr wissen möchte, kann in meinem Calwer Vortrag mit dem Titel „Interkulturelle spirituelle Grundlagen des Glasperlenspiels“ nachlesen, wie die „Lebensläufe“ insgesamt mit Hesses Philosophie der Menschheitsentwicklung zusammenhängen.

 

 

Ein „Tessiner Lebenslauf“ (Fragment von 1932)

 

Wir beginnen unsere Reise zum Gipfel des kastalischen Lebenslaufs mit einer kurzen Betrachtung des „Tessiner Lebenslaufs“ von 1932. Hesse knüpfte an die ihm vertraute neue Heimat des Tessins an, versetzte sie zeitlich um die Jahrhundertwende zurück und erzählt das Schicksal des Bauernjungen Mario Designori. Außer dem Namen Designori gibt es keinen Anhaltspunkt, dass es sich um eine Vorarbeit zum „Glasperlenspiel“ handeln könnte. Auch die Erzählweise knüpft an Hesses große realistischen Erzählungen an. Aber auch hier ist keine Verbindung zum neuen Stil des „Glasperlenspiels“ zu bemerken. Hesse musste gefühlt haben, dass er so nicht weiterkam. Er ließ den Tessiner Lebenslauf liegen und wandte sich den Naturvölkern zu.

 

 

„Der Regenmacher“ von 1934

 

Diese Erzählung hat nun schon einige Berührungspunkte mit dem kastalischen Lebenslauf. Der Name Josef Knecht steht fest, ein sprechender Name, und fest steht auch, dass es darum geht, ein Bewusstsein vom Ganzen zu entwickeln. Das Thema des rechten Dienens ist gefunden und wird ausgeführt. Wir werden um 20.000 Jahre in das Zeitalter des Matriarchats zurück versetzt. Es überrascht also nicht, wenn es die Ahnfrau ist, die die Macht im Stamm ausübt. Die „Macht“, die der Regenmacher ausübt, wirkt im Geheimen. Er hat durch langes Üben und durch das genaue Studium der Natur ein Bewusstsein des Ganzen erlangt. Es erlaubt ihm, das Wetter voraussagen und die günstigsten Zeiten für die Jagd zu bestimmen. Als eine Dürrezeit kommt und der Stamm zu verhungern droht, muss der Regenmacher sein Leben opfern. Er tut es in Würde. Der Schluss des „Glasperlenspiel“ nimmt diesen Schluss aus dem „Regenmacher“ wieder auf. Josef Knecht ertrinkt vor den Augen seines Zöglings in einem Bergsee.

 

Josef Knecht wird als ein ehrfürchtiger Mensch dargestellt. Die Ehrfurcht war Hesse sehr wichtig. In seiner Betrachtung „Ein Stück Theologie“ von 1932 unterscheidet er zwischen den Typen des Vernünftigen und des Frommen. Kein Zweifel, Knecht gehört zu den „Frommen“. Doch die Konstellationen, die diesen Charakterzug zur Entfaltung bringen werden, sind im „Regenmacher“ und im „kastalischen Lebenslauf“ sehr verschieden. Josef Knecht als Lehrling und dann Meister des Wettermachens ist noch ganz Naturmensch. Er analysiert die ihn umgebende Natur nicht mit dem Verstand – genauso wenig, wie der Musiker Knecht die Kunst der Fuge von Bach analysieren würde – er nimmt sie wahr, lässt sie in sein Herz hineinwachsen und verkehrt mit den Mächten der Natur in höchster Achtung. Er ist bereit, die Erscheinungen der Natur hinzunehmen, wie sie sind. Und wenn die Natur von ihm fordern sollte, dass er sein Leben für den Frieden mit den Dämonen hingeben muss, so wird er es ohne zu zögern tun.

 

Der Regenmacher und der Glasperlenspielmeister haben auch gemeinsam, dass sie Wissende sind. Der Naturmensch gewinnt sein Wissen aus der Beobachtung der Naturvorgänge. Er bewahrt es auf und gibt es in gemessener Form an seinen Stamm weiter, damit Jagd und Ernte günstig ausfallen. Außer Josef gibt es als Wissende im Dorf noch die Stammmutter. Die Stammmutter bezieht ihr Wissen aber aus den Erzählungen ihrer Vorgängerinnen. Josef Knecht bezieht es aus der Beobachtung der Natur. Der Regenmacher und die Ahnfrau stehen im Kontrast zueinander.

 

Auch der Weg, den Josef Knecht zurücklegt, um Nachfolger des Wettermachers Turu zu werden, erinnert schon an den Weg des Knaben Knecht bis zu seiner Ernennung zum Glasperlenspielmeister. Es handelt sich um dasselbe Muster, dass ein Knabe die Aufmerksamkeit eines Meisters auf sich lenkt und es schließlich erreicht, als Lehrling von ihm angenommen zu werden. Dieses werbende Umschleichen der bewunderten Autorität des Meisters, der dem Adepten zunächst die kalte Schulter zeigt, entlockt dem Erzähler Hesse feinstes Können. Beeindruckend geschildert wird die Stunde der Initiation des Adepten durch den Meister. Auch dies ein Moment im Muster der Aneignung der Kunst des Meisters durch den Schüler, der in beiden Lebensläufen ähnlich gestaltet wird.

 

Interessant scheint mir der Gedanke, dass beide Erzählungen ein zentrales Thema haben, die Musik ist das Hauptthema im kastalischen Lebenslauf. Das Walten der Naturkräfte im Alltag des Stammeslebens, das Thema im Lebenslauf des Regenmachers. Das naturnahe Leben bildet also den Ausgangspunkt von Hesses Suche nach dem Glasperlenspiel. Der ehrfürchtige Umgang mit dem Wissen und die Demut, die es braucht, Macht nicht zu missbrauchen, sind sozusagen eine erste „Realisierung“ von Hesses impliziter Botschaft gegen den Nationalsozialismus, der das Dienen seiner Anhänger für Machtzwecke missbraucht hat.

 

 

Die „schwäbischen Lebensläufe“ von 1934

 

Es folgte der dritte und vierte Versuch Hesses. Er bringt uns Kastalien einen großen Schritt näher. Wir finden das Thema der Frömmigkeit wieder und das Thema des Dienens. Hinzu kommt erstmals das Hauptthema aus dem „Glasperlenspiel“, die Musik. Sie wird dem schwäbischen Theologen Josef Knecht wichtiger als der Dienst an der Kirche. Den wahren Geist der Musik verkörpert Johann Sebastian Bach, nicht Mozart, wie man nach dem „Steppenwolf“ hätte vermuten können. Vom Erzählerischen her gesehen, verharrt Hesse noch immer in seinem gewohnten realistisch-psychologischen Stil. Die imaginierten Begegnungen mit Bengel, Oetinger und Zinzendorf während des Studiums der Theologie in Tübingen, lassen den Leser die Frömmigkeit der Pietisten nacherleben.

Man darf vermuten, dass dieser Anlauf für Hesse besonders wichtig gewesen sein muss. Der Pietismus seiner Eltern geht ja auch auf die Lehre und Praxis diese Männer zurück. Indem er sie studierte, beugte sich Hesse ein letztes Mal über seine eigene Herkunft. Es wurde keine Abrechnung mit dem Pietismus daraus. Hesse bewahrte den reinen Geist des Pietismus. Doch was das Hauptthema der Musik betrifft, versagten seine Imaginationskräfte. Es war ihm (noch nicht) möglich, sich vorzustellen, wie Knecht als Musiker im Kirchendienst hätte überleben können.

 

Den Durchbruch Josef Knechts zum Geist der Musik gelang Hesse erst im Kapitel „Studienjahre“ des „Glasperlenspiels“ (SW Bd. 5, S.103 – 107). Der Erzähler berichtet von einer Episode Knechts mit Tegelarius. Er nennt sie „das Erlebnis“, das Josef Knecht vom „Glasperlenspiel“ überzeugt hat. Wer diese Seiten liest, die Knechts Initiation in den Geist des Glasperlenspiels schildern, wird schnell bemerken, dass auf der Ebene des „schwäbischen Lebenslaufs“ Josef Knecht in der Tat erst in den Vorhof des Tempels der Musik vorgedrungen ist.

 

Abschließend komme ich noch einmal auf meine Bemerkung vom Anfang zurück. Ich hatte gesagt, dass das Studium der sechs historischen Lebensläufe den kastalischen Lebensentwurf Josef Knechts in einem neuen Licht zeigen würde. Ich habe dafür das Bild einer Bergbesteigung benutzt und gesagt, dass Hesses literarische Gestaltung von Kastalien mir wie ein Berggipfel vorkomme. Hesse nimmt alle Themen auf, an denen er sich von 1932 bis 1938 auf dem Weg zum „Glasperlenspiel“ versucht hat. Es gelingt ihm, sie auf die Musik zu zentrieren und einen neuen Erzählstil zu entwickeln, der mit äußerster Zurückhaltung, eher berichtet als dass er erzählen würde. Es ist, wie schon gesagt, der anonyme Bericht eines Beauftragten, der sich streng an die Vorgaben aus seinen Quellen hält. Die Zeit des sich selbst verwirklichenden Individuums, das in den großen Erzählungen von Hesse Triumphe gefeiert hat, war offensichtlich passé. An seine Stelle trat der dienende Mensch, der angesichts der massiven Bedrohung durch die Totalitarismen, daran arbeitet, den Fortbestand der Kultur und ihrer Werte zu sichern.

 

Lesen Sie auch die „Stufen des Erwachens“ im Lebenslauf des Magister Ludi Josef Knecht.

 

Johannes Heiner im November 2012