A. Vorbereitung

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Wie jeder Text sind die Gedichte aus dem „Stundenbuch“ an bestimmte historische Voraussetzungen gebunden, die der Leser und die Leserin kennen sollten. Es handelt sich um mehrere Punkte:

1. Die erste Russlandreise von 1899 hat im Innern von Rilke, der damals 24 Jahre alt  und auf der Suche nach einem Sinn für seine dichterische Existenz war, bildlich gesprochen „einen Erdrutsch“ ausgelöst. Er wurde von der russischen Intelligentsia mit offenen Armen aufgenommen und in das Panorama der zeitgenössischen russischen Literatur und Kunst eingeführt. Jeder konnte das Bemühen des jungen „deutschen“ Dichters bemerken, mit welcher er sich die russische Sprache und Kultur anzueignen suchte und das wurde von den russischen Gesprächspartnern honoriert.

Rilkes Begegnung mit Russland beschränkte sich aber nicht auf Besuche bei Künstlern und Schriftstellern. Er interessierte sich nicht weniger für das Leben der „Armen Leute“ (so der Titel von Dostojewskis erstem Roman, den Rilke teilweise übersetzt hat). Er war begierig, die Lebensumstände der Bauern auf dem Land kennen zu lernen. Die zweite Russlandreise von 1900 wird ihn bei Gelegenheit der dreiwöchigen Wolgareise diesem Ziel näher bringen.

Im Zentrum dieser ersten Begegnung mit der russischen Kultur steht die altrussische Ikone, die Rilke bei unzähligen Kirchenbesuchen erlebt hat. Es ist schon sehr beeindruckend, eine Ikone im Museum zu betrachten, wo sie losgelöst von der Liturgie ausgestellt wird. Wie viel beeindruckender muss es sein, die Ikone im Zusammenhang der orthodoxen Liturgie zu erleben!

 

2. Die Beziehung zu Lou Andreas Salomé gibt den emotionalen Hintergrund der Vorbereitung und Durchführung ab. Rilke hatte sich ein Jahr zuvor in sie verliebt und sie hatte die Liebe des dreizehn Jahr Jüngeren erwidert. Mit der Liebesbeziehung öffnete sich für Rilke auch der russische Hintergrund, aus dem sie stammte.


3. Am Anfang sehr verwirrend sind die vielen Gottesbilder. Fast jeder Text benennt einen anderen Aspekt: Gott ist das Dunkle, Tiefe, Fremde, Nahe usw.

Die Reihe lässt sich fortsetzen. Die Frage taucht auf: Und was eigentlich meint Rilke mit Gott?

Als positive Seite dieser ambivalenten Vielfalt könnte ausgemacht werden, dass dem Leser (und der Leserin) dadurch Gelegenheit gegeben wird, seine eigenen Bilder von Gott zu hinterfragen.

Eine gewissen Klärung und Beruhigung tritt ein, wenn man die durch Lou vermittelte Beziehung zur Philosophie Friedrich Nietzsches bedenkt. Nietzsche hatte verkündet: Gott ist tot. Dieses Diktum gehörte um 1900 bereits zum Allgemeingut der Schriftsteller in Deutschland. Hermann Hesse wird 1919 sogar die „Rückkehr von Zarathustra“ proklamieren.

Dabei wird vergessen, dass Nietzsche keinen Freibrief für den Atheismus ausgestellt hat. Im Gegenteil: Er hat die Beziehung zu Gott auf eine neue Basis gestellt. Der moderne Mensch soll an Gottes Existenz teilhaben. Er soll die Schöpferkraft des alten Gottes, die im Buch Genesis wunderbar beschrieben wird, für sein eigenes Leben entdecken. Mit dem missverstandenen Begriff vom „Übermenschen“ hat Nietzsche neue Maßstäbe für die Zukunft gesetzt.

Es wird deshalb für das Gespräch über die Gedichte sinnvoll sein, jeweils herauszufinden, ob es sich um den „alten Gott“ und seine dekadente Kirche oder um einen Versuch handelt, im Anschluss an Nietzsche einen „neuen Gott“ und eine neue Form von Gemeinschaft zu erfinden.

 

4. Rilke befand sich auf der Suche nach einem Gelderwerb. Er erhoffte sich von seinen russischen Studien, die er zum großen Teil zusammen mit Lou betrieb, eine Position, die es ihm erlaubt hätte, ein regelmäßiges Einkommen zu beziehen. Nach der zweiten Reise wird er sich um eine solche Stellung in Russland vergeblich bemühen. Der erste Auftrag wird wenig später kommen, aber in eine andere Richtung weisen, nämlich nach Paris. Rilke fährt im Herbst 1902 nach Paris, um eine Monographie über den berühmten französischen Bildhauer Auguste Rodin zu verfassen. Es ist Rilkes erster größerer Auftrag und der frisch verheiratete Dichter hat ihn „mit zitternden Händen“ ergriffen.

Es wird nun gut sein, diese Vorbereitung durch eine Ikonen-Meditation abzuschließen.

 

 

Dazu einige Bemerkungen. Die alten Ikonen sind auf Holzplatten aufgetragen. Sie zeigen noch eine gewisse Rundung, wie sie zu dem Baum gehörte, von dem das Holzbrett geschnitzt worden sind. Der Goldgrund drückte die überwältigende und allgegenwärtige Präsenz Gottes aus. Die Ausprägung der Gesichtszüge erfolgte nach den Regeln der Überlieferung. Alle Christusikonen der orthodoxen Kirchen ähneln einander. Immer die langen Haare, der Bart und ein ernster Blick am Betrachter vorbei oder in seine Augen.

 

© Johannes Heiner 01/2013

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