Das Bild des Baumes bei Rilke

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„Der Baum“ ist eine zentrale Metapher schon im „Stundenbuch“. Rilke verwendet das Bild in eigenwilliger Weise. Gleich am Anfang legt er einen Querschnitt durch den Stamm (1,2) und benutzt die Wachstumsringe als Symbole für ein aufsteigendes Leben. In 1,3 wendet er sich dem Wurzelwerk zu und rühmt die Verankerung des Baums im Erdreich. „Mein Gott ist dunkel und wie ein Gewebe / von hundert Wurzeln, welche schweigsam trinken.“ Die Strophe führt gleich weiter und über die Baumwurzel hinaus: „Nur, daß ich mich aus seiner Wärme hebe, / mehr weiß ich nicht, weil alle meine Zweige / tief unten ruhn und nur im Winde winken.“ „Winken“ reimt sich mit den „Wurzeln“, die „im Wasser trinken“. Das Gedicht 1,5 nimmt diese Bilder wieder auf und fasst sie im Begriff der „warmen Wurzeln“ zusammen.

Der Mönch gibt seiner Sehnsucht nach Gott und nach einem „zweiten zeitlos breiten Leben“ (1,5) im Bild des Baumes Ausdruck, der in seinen Wurzeln das Wasser aus der Erde „trinkt“ und dadurch Lebensenergie aufbaut. Er steht nicht unbedingt am Wasser, wie es der erste Psalm formuliert. Aber er „trinkt“ das Wasser Gottes und lebt aus dem Kraft der Hoffnung auf ein gültiges Leben mit Gott. Der Baum wird als ein Ganzes gesehen. Er hat Berührung nicht nur mit dem Erdreich, sondern auch mit dem Wind bis hin zum Sturm, und er „kämpft“ sich durch das Leben und wächst in Ringen an den Hindernissen, die das Leben ihm entgegensetzt. In seinen „warmen Wurzeln“ vermittelt er dem Menschen Geborgenheit und Tiefe.

Werfen wir einen Blick auf die späte Dichtung Rilkes und wir werden gleich am Anfang der „Sonette an Orpheus“ wieder auf die Baummetapher stoßen. Das Eröffnungssonett beginnt mit der Zeile: „Da stieg ein Baum. O reine Übersteigung!“ An die Stelle vom „Gott“ des „Stundenbuchs“ ist jetzt der Dichter, Sänger, Priester, Gott, nämlich Orpheus, getreten. „Der Baum“ steht auch hier wieder für ein von der göttlichen Urkraft inspiriertes Leben (siehe auch „Sonette an Orpheus“).