Gedanken zum Gedicht "Der Schauende"

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für Willigis Jäger zum 80. Geburtstag

Ich sehe den Bäumen die Stürme an
die aus laugewordenen Tagen
an meine ängstlichen Fenster schlagen,
und höre die Fernen Dinge sagen,
die ich nicht ohne Freund ertragen,
nicht ohne Schwester lieben kann.

Da geht der Sturm, ein Umgestalter,
geht durch den Wald und durch die Zeit,
und alles ist wie ohne Alter:
die Landschaft, wie ein Vers im Psalter,
ist Ernst und Wucht und Ewigkeit.

Wie ist das klein, womit wir ringen,
was mit uns ringt, wie ist das groß;
ließen wir, ähnlicher den Dingen,
uns so vom großen Sturm bezwingen, -
wir würden weit und namenlos.

( Die Strophen 4,5,6 folgen weiter unten)


Wenn wir uns ihnen zuwenden, bringen Gedichte Saiten in uns zum Erklingen, die uns selbst gar nicht so sehr bewusst sind. Wir wundern uns über uns selbst und über den Dichter. Wie konnte er dies nur wissen, so fragen wir uns dann. Dank des Gedichtes spüren wir, wo wir uns befinden. Was reif geworden ist und was noch Zeit braucht. Eine unschätzbare Rückmeldung also kann von der Begegnung mit Gedichten ausgehen. 

Manche Gedichte bringen diese Saiten immer wieder zum Erklingen. Ein solches Gedicht ist für mich "Der Schauende". Es begleitet mich seit drei Jahren. Da war es mir von einem Freund gezeigt worden. Nun zeige ich es dir, der du dies liest. 

Der Schauende ist der kontemplative Mensch. Ist der Mensch, der dem Überlebenskampf Zeit und Raum für ein Stündchen alleine mit sich und mit Gott abtrotzt. Im stillen Kämmerlein oder im Kontemplationshaus oder in der freien Natur. 

In der gesammelten Stille kann es dann geschehen, dass "die Fernen/ Dinge sagen - die ich nicht ohne Freund ertragen,/ nicht ohne Schwester lieben kann". Die Wahrheit kann schwer auf mir lasten. Manchmal lastet sie, manchmal beflügelt sie und macht leicht. Da spüre ich dann mein Angewiesensein auf das Gespräch mit dem Freund, mit der Freundin, in der Gruppe. Erst im Gespräch finde ich zu dem, der ich wirklich bin. Erst im Gespräch wird mir als Individuum die ungeteilte Aufmerksamkeit von einem Du zuteil. Etwas Wertvolleres als uns selbst und die liebevolle Zuwendung des Du haben wir in diesem Leben eigentlich nicht. 

In der gesammelten Stille erfahre ich das Gegenwärtigsein in einer Art Zeitlosigkeit. Der "Sturm" meiner Gedanken und Gefühle setzt mich auf einer Hochebene ab, auf der es nur noch still ist: "ohne Alter". Wie wunderbar der Vers: "und alles ist wie ohne Alter: / die Landschaft, wie ein Vers im Psalter,/ ist Ernst und Wucht und Ewigkeit"

In der gesammelten Stille schließlich kommt das rastlose Tun meiner hin-und hereilenden Gedanken zum Erliegen. Sie werden nicht mehr gefordert. Der Kontemplative fördert sie auch nicht, das ist ja sein "Job"- und irgendwann kehrt Ruhe ein. Wir sind "weit und namenlos" geworden. Wir haben uns darauf eingelassen, dass wir "ein Nichts" sind. In der Freiheit des Niemandseins können wir neu geboren werden. 

Rilke war ein Kontemplativer avant la lettre. Er hat die Schau erfahren, ohne von einem Lehrer angeleitet worden zu sein. Seine tiefsten Erfahrungen hat er in den "Duineser Elegien" niedergelegt. Wir müssen nur hinhören: "Aber das Wehende höre,/ die ununterbrochene Nachricht, die aus Stille sich bildet" (aus der ersten Elegie). In unserem Text heißt es: 

Wie ist das klein, womit wir ringen, 
was mit uns ringt, wie ist das groß; 
ließen wir, ähnlicher den Dingen, 
uns so vom großen Sturm bezwingen, - 
wir würden weit und namenlos. 

Was wir besiegen, ist das Kleine, 
und der Erfolg selbst macht uns klein. 
Das Ewige und Ungemeine 
will nicht von uns gebogen sein. 

Der kontemplative Mensch lebt also in der Hingabe an das, was ist. Kein Wille ist mehr nötig und kein Machen ist mehr erforderlich. Seine Haltung besteht im Warten auf das Wunderbare. Er lädt das Wunderbare ein, dass es sich in seinem Leben ereignen möge. Er lebt in der Nicht - Erwartung auf den "Engel". Das ist die beste Einladung an ihn. Und der Engel kommt ganz sicher - so wie alles Realität wird, was man sich sehnlichst wünscht: 

Das ist der Engel, der den Ringern 
des Alten Testaments erschien: 
wenn seiner Widersacher Sehnen 
im Kampfe sich metallen dehnen, 
fühlt er sie unter seinen Fingern 
wie Saiten tiefer Melodien. 

Ich lese diese Verse so: dem Engel ist die Leichtigkeit zu eigen. Er hat das Stadium des Kämpfens überwunden. 

Wen dieser Engel überwand, 
welcher so oft auf Kampf verzichtet, 
der geht gerecht und aufgerichtet 
und groß aus jener harten Hand, 
die sich, wie formend, an ihn schmiegte. 
Die Siege laden ihn nicht ein. 
Sein Wachstum ist: der Tiefbesiegte 
von immer Größerem zu sein. 

Ich habe schon gelegentlich meines Versuch einer Darstellung des spirituellen Lernprozesses von Rilke über den Malte-Roman gesagt, dass dieser meisterhaften Dichtung ein "gereiftes" Verhältnis zum Realitätsprinzip zugrunde liege(siehe die beiden Vorträge unter www.lyrikrilke.de /Studien). Unser Gedicht-Text, so scheint mir, führt einen großen Schritt weiter. Die Haltung der Kontemplation entspringt dem Geist der Annahme. Sie bewirkt im Bewusstsein des Menschen eine Umkehrung der Haltung des "Machens" in die des bereitwilligen Erduldens. Sie verändert die Perspektive vom Wahrnehmen des Individuellen und Singulären zu dem des Ganzen und Universellen. Im Erleiden wird mein Bewusstsein geschärft. Im Erleiden erfährt es seine Begrenzung und Schwäche. Es erhält dadurch die Chance, sich als Teil des Ganzen zu begreifen. Der seine Wünsche überwindende Mensch gelangt in den Zustand des Loslassens. Die Annahme des Widerstrebenden bewirkt, dass er die "harte Hand" des Lebens aushalten kann - und Heilung erfährt. 

Johannes Heiner im Januar 2005