"Paris, Rilke und ich" - eine Erzählung

"Paris, Rainer Maria Rilke und ich" - Das Schreiben, ein Abenteuer

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Gliederung:

Vorwort

Die erste Momentaufnahme

Die zweite Aufnahme

Die dritte Aufnahme

Die vierte Aufnahme

Die fünfte Aufnahme

Die sechste Aufnahme

Die siebte Aufnahme

On devrait créer un iténéraire Rilke à Paris.

 

 

 

Vorwort

Dieser Bericht von einer Reise nach Paris im September des Jahres 2008 trägt den Untertitel: Das Schreiben, ein Abenteuer. Ich möchte damit ausdrücken, dass der Schreibakt bei mir aus dem Augenblick heraus erfolgt und, wenn er gelingt, voller Überraschungen, auch für mich selbst, steckt. 
Eine dieser Überraschungen war die starke Präsenz von Rilke auf der Fahrt nach Paris. Sie hängt natürlich damit zusammen, dass die Reise zu einer Tagung der Rilke-Freunde erfolgte und dass ich im Lauf der Jahre meines Rilke-Studiums intensive Kenntnis seiner Person und seines poetischen Werkes erworben habe. Doch hat es mich selbst überrascht, wieviel Raum Rilke in meinem geistigen Leben einnimmt.
Die zweite Überraschung ging von den Erinnungen an meine eigene Jugend in Paris aus. Ich wurde damals unter dem Namen Hans Keydelgeführt, weil die Familie den Namen Keydel trug und heute noch trägt. Mein eingetragener Geburtsname aber lautet auf Heiner. 
Mehr will ich jetzt nicht verraten. Nur noch einem falschen Verständnis möchte ich vorbeugen. Es ist für mich nicht so, dass ich mich mit Rilke vergleiche, um mich zu erhöhen. Rilke steht in meiner Verehrung so hoch, dass ich nicht auf die Idee käme, einen Vergleich mit ihm anzustellen. Nein, es handelt sich nur um Parallelisierungen, die es mir erlauben, in diesem Bericht als Mensch anwesend zu sein.
Alle Namen, die hier vorkommen, sind natürlich frei erfunden. Aber die Namen der Orte sind real. Sie warten darauf, mit den entsprechenden Rilke-Texten in der Hand aufgesucht und neu entdeckt zu werden. Auch dies könnte zu einem Abenteuer werden. 



Ich sage hallo. Meine Name damals war Hans Keydel, gesprochen « ANS Kedel », die Franzosen sprechen das H nicht. Ich war damals neuneinhalb Jahre alt, als meine Familie nach Paris zog und ich einfach so, von einem Tag auf den anderen, nach Paris kam. 
Mich traf der Schlag, als ich wenige Tage nach unserer Ankunft auf denChamps-Elysées stand. Wir wohnten nicht weit vom Etoile und vom Bois de Boulogne entfernt. Ich musste die Prachtstraße überqueren, um zum Unterricht in französischer Sprache auf die andere Straßenseite zu gelangen. Meine Eltern hatten einen Studienrat gebeten, mir Grammatik beizubringen. Ich kann mich zwar an die Champs-Elysées, nicht an den Grammatikunterricht erinnern. Sieben Jahre später war dies alles, was eben angefangen hat, aus und vorbei. Wir haben Frankreich verlassen, als ich sechzehn Jahre alt war. Doch das ist wieder eine andere Geschichte.
Heute arbeite ich als Schriftsteller. Ich lebe mit meiner Frau im schönen Frankenland und es beschäftigt mich, dass ich bald siebzig Jahre alt werde. Ich werfe so manchen bangen Blick auf den rinnenden Sand der ablaufenden Zeituhr und frage mich, ob ich in meinem Leben wirklich alles gegeben habe, wozu ich in der Lage wäre. Zwischen den beiden Daten, damals in Paris und heute in P., liegt ein langes Leben. Davon wird an anderer Stelle die Rede sein. Ein Ergebnis dieses langen Lebens besteht in der Entdeckung, dass Schreiben sehr hilfreich sein kann, Knoten zu lösen und dass Schreiben Spaß macht. Der in Prag geborene und in der Schweiz verstorbene Dichter Rainer Maria Rilke (1875-1926) ist an dieser Entdeckung nicht ganz unschuldig. Ich habe ihn viele Jahre lang studiert und interpretiert. Er hatte das professionelle Schreiben in Paris entdeckt. Er hat beherzigt, was Auguste Rodin ihm damals sagte: Il faut travailler, toujours travailler. Zwischen meiner Arbeit hier in P. und dem schreibenden Rainer Maria Rilke in Paris besteht also eine gewisse Parallelität. Stören Sie sich bitte nicht an dem Ausdruck professionell. Ich meine damit nur, ich kann mir das eigene Leben nicht mehr ohne Schreiben vorstellen. Ich bin bereit, in jeder seelischen Verfassung an den Schreibtisch zu gehen. Und ich bin bereit, zu jedem Thema, das Sie sich wünschen und mir vielleicht in Auftrag geben, einen Text zu verfassen. Auch dann, wenn ich es mir nicht zutraue, etwas Gescheites zu schreiben, entstehen manchmal Wortgebilde, die mich überraschen. Ich liebe die Überraschungen beim Schreiben. Sie fangen ein und bringen zum Ausdruck, was echt ist. Das Vorgedachte und Geplante ist nicht unbedingt echt. Aber das unvorhergesehene Gefühl, welches auftaucht. Oder die blitzartige Einsicht. Ich sagte es schon: Schreiben ist für mich zu einem Abenteuer geworden. 
Rilke hat also das Schreiben in Paris gelernt. Ich lernte es in Poxdorf. Es leuchtet sofort ein, dass ein Mensch das Schreiben in Paris lernt. Was es da nicht alles zu sehen gibt. Aber auf einem Dorf und dann noch einem fränkischen. Wie kann einer auf einem Dorf das Schreiben lernen? Das ist eine sehr gute Frage, finde ich! Ich kann nur sagen, man lernt, den Geist zwischen die Radieschen zu stecken und man lernt zu warten, bis die Dinge reif geworden sind. Auf dem Land kann man es sich nicht leisten, im geistig Ungefähren zu leben. Wartenkönnen und den richtigen Augenblick erwischen, das kann man sich von Rilke abschauen.
In unserer Pariser Wohnung hingen Aquarelle von einer deutsch-lothringischen-jüdischen Malerin mit Namen Lou Albert Lasard. Meine Eltern hatten einige Bilder von ihr in den fünfziger Jahren erworben, als sie noch lebte. Sie galt als die Rilke-Freundin. Viele Jahre sind seitdem vergangen. Die Bilder der Rilke-Freundin blieben in meiner Erinnerung. Sie halfen mir, viele Jahre später einen Bezug zu Rilke zu finden. Sie stellten so etwas wie ein Brücke von meiner Jugend zur Dichtung von Rilke dar, die sich mir erst vor acht Jahren erschloss. Erst war Goethe, dann Hesse, dann Rilke mein Schreibmeister.
Man muss sich das wirklich einmal vorstellen. Da hängen im Wohnzimmer Jahrzehnte lang Bilder von einer Malerin, die etwas mit Rilke gehabt hat. Rilke sagte mir wenig. Ich ging auf das französische Gymnasium. Da gab es Corneille und Racine, aber keinen Rilke. Wer war dieser Rilke?
Ich musste diese Frage fünfzig Jahre lang ruhen lassen. Sie kam erst zurück, als mir ein Freund von den Duineser Elegien vorschwärmte. Die Höraufnahmen von Bert Hellinger waren gerade herausgekommen. Der Freund schickte mir gelegentlich Gedichte von Rilke im Anhang zu den E-Mails. Da sind die Bilder der Malerin wieder lebendig geworden und ich habe mich erinnert, dass es sie gibt. Auf den Aquarellen sind Tiere in anmutiger Haltung und verschwimmenden Farben zu sehen. Sie erinnern an die Pariser Tiergedichte von Rilke und sind wohl auch von ihnen inspiriert. 
Inzwischen habe ich die Liaison zwischen Rilke und Loulou eingehend untersucht.1 Loulou und LAL war der Kosename für die Malerin. Nicht zu verwechseln mit Lou Andreas Salomé. Lou war die große Liebe von Rilke. Loulou ist eher einer Affäre zu vergleichen. Auf der Rilke-Tagung, zu der ich gerade unterwegs bin, und die als die eigentliche Ursache dieser Erzählung betrachtet werden darf, war auch von Loulou die Rede.Stéphane Hessel, eine bekannte Persönlichkeit des öffentlichen Lebens in Frankreich, erwähnte sie und dass sie sich bei jeder Gelegenheit damit gebrüstet habe, la maîtresse de Rilke gewesen zu sein. Abgesehen davon, dass diese Aussage maßlos übertrieben ist, macht sie die Person, die sie äußert, unangenehm, weil diese Person offensichtlich ein starkes Bedürfnis hat, sich in den Vordergrund zu stellen und mit falschen Federn zu schmücken. Ich habe auf der Rilke-Tagung darauf verzichtet, Stéphane Hessel zu widersprechen. Es hätte nichts genützt. Ich bin keine bekannte Größe. Ich hätte gerne auf die Verdienste von Loulou für den Ruf von Rilke in Frankreich hingewiesen. Sie hat in den Jahren ihrer Beziehung zu Rilke 1914 bis 1916 die Arbeit des Dichters an den Duineser Elegien beflügelt. Sie darf als die Muse der Elegien betrachtet werden, so lautete eines meiner Ergebnisse. Sie hat, nachdem sie von Berlin nach Paris umgezogen war, nicht nachgelassen, Rilkes Gedichte in Umlauf zu bringen. Sie gab in Paris einen Auswahlband der Gedichte von Rilke mit ihren Übersetzungen ins Französische heraus. Der Band wurde immerhin von Paul Valéry, dem französischen Dichterfürsten, eingeleitet. Man kann also behaupten, dass Loulou das Rilke-Bild vieler Franzosen geprägt hat.
Doch nun zu Paris, auf das ich mich ja geistig vorbereite. Neben Rilke und Hans Keydel ist es ja das dritte Thema in dieser Erzählung. DerMalte-Roman, den Rilke in Paris geschrieben hat, trägt an vielen Stellen die Spuren der Stadt. Der Roman nennt mehr als zwanzig Orte in Paris. Allen voran steht der Jardin du Luxembourg. Es folgt die Bibiothèque Nationale, der Louvre und das Musée de Cluny. Im Luxembourg hat Rilke sich erholt; in der Nationalbibliotek hat er sich über die geistigen Größen aus der französischen Geschichte und Literatur informiert. Das Musée de Cluny offenbarte ihm die Größe des "gotischen" Mittelalters. In den beiden zoologischen Gärten Le Jardin des Plantes und Le jardin d´ Acclimatisation war Rilke mit Rodin unterwegs. Rilke hat die Tiere beobachtet und sich Notizen über die Menschen, die die Tiere beobachten, gemacht. Dies waren die Pole seines arbeitsames Dichterlebens in Paris: Lesen, Schreiben und Beobachten. Die Hauptfigur Malte sagt gleich zu Anfang von sich: Ich lerne sehen. 
Wenn ich es recht überlegte, würde ich von mir behaupten: ich lerne schreiben. Zwischen beiden Aussagen bestehen vielfältige Beziehungen. Man muss sehen können, wenn man die Erfahrung in Worte fassen möchte. Rilke schrieb den Malte in einer unerhört neuen Art und Weise des kreisenden Bewusstseins, wie es später in der modernen Literatur Gang und Gäbe wurde. Ich schließe an diese literarische Strömung an. Mit diesem Bericht unternehme ich einen Versuch, die Dinge, die gerne auseinander gerissen werden, das Wissen und die Erfahrung, das Denken und das Fühlen, die Wahrnehmung und das Schreiben, das Leben und die Poesie, zusammenzubringen.

 

   

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