Blumenmuskel, der der Anemone

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Rilkes Sonett besteht aus einem ersten Teil der Beschreibung des sichtbaren „Dings“ und aus einem zweiten, unsichtbaren Teil der Übertragung auf das Leben der Menschen. In diesem zweiten Teil wird die Anemone zum Sinnbild eines „offenen Lebens“.

Der Schwerpunkt in der Beschreibung liegt zunächst auf dem „Blumenmuskel“. Er verbindet die Blume mit der Erde. Er bringt die Kraft der Erde zur zarten Blume hin und ermöglicht es, dass „Sterne“ den Erdboden zu bedecken scheinen. Wie die letzten beide Verse des 1. Quartetts (der ersten Strophe) verdeutlichen, wird er zum Träger des „polyphonen Lichts“, das der „laute Himmel“ in die Blumenblüte ergießt. Die Klangbeimischung verstärkt den überwältigenden Eindruck der Blume auf den Dichter. Der „laute Himmel“ des ersten und der „stille Blütenstern“ des zweiten Quartetts stehen im Gegensatz zueinander. Die Blume, wie sie vor uns steht, ist zwar ein Produkt der Erdkraft, doch noch zarter, als der Himmel es ist. „Erde“ und „Himmel“ werden in ihr zu einer wunderbaren Balance gebracht.

Das zweite Quartett (die zweite Strophe) pointiert im Bild des „unendlichen Empfangs“ die poetische Idee dieses Gedichts und führt sie zugleich in einen Wendepunkt hinein. Die Wendung wird mit der Formulierung „Ruhewink des Untergangs“ des ersten Terzetts angedeutet. Es kommt die Nacht und mit ihr der Tod der Blume. Der Dichter hatte beobachtet, wie manche Blume am Abend nicht mehr die Kraft findet, ihren Kelch zu schließen. Er hat in mehreren Briefen sein Bedauern ausgedrückt. Dieses Erlebnis ist in das Sonett eingegangen (siehe KA II, S. 748 f. Dort werden die Briefe zitiert.)

Das zweite Terzett überträgt die Einsichten des Dichters Rilke auf seine Auffassung vom Leben. Er beginnt mit einem Gegensatz des Bedauerns. Im Vergleich zur dieser Blume kommt ihm das Wirken der Menschen „gewaltsam“ vor. Er macht diesen Eindruck zur Hauptbestimmung, schließt sich aber interessanterweise mit ein: „Wir, Gewaltsamen“. Der Dichter vergleicht die Blume mit dem Leben der Menschen. Er fragt sich, wann das Leben jemals eine solche Offenheit erlangen werde, wie sie von der blühenden Anemone ausgehe.

Das „offene Leben“ der Blumen wird ihm zu einem Bild der Sehnsucht. Er hat es mit anderen Worten in der siebenten Elegie zum Thema der Tiere und der Kinder beschworen. Mit seinem aktiven Leben drängt der Mensch die zarten Wesen immer wieder an den Rand der Existenz. Dabei hätten sie uns doch so viel zu geben, würden wir achtsamer mit ihnen umgehen! 

 

Johannes Heiner, Frühjahr 2011