Das "Vermächtnis" des Siddhartha

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"Die Welt, Freund Govinda, ist nicht unvollkommen, oder auf einem langsamen Wege zur Vollkommenheit begriffen: nein, sie ist in jedem Augenblick vollkommen, alle Sünde trägt schon die Gnade in sich, alle kleinen Kinder haben schon den Greis in sich, alle Säuglinge den Tod, alle Sterbenden das ewige Leben. Es ist keinem Menschen möglich, vom anderen zu sehen, wie weit er auf seinem Wege sei, im Räuber und Würfelspieler wartet Buddha, im Brahmanen wartet der Räuber. Es gibt in der tiefen Meditation die Möglichkeit, die Zeit aufzuheben, alles gewesene, seiende und sein werdende Leben als gleichzeitig zu sehen, und da ist alles gut, alles vollkommen, alles ist Brahman. Darum scheint mir das, was ist, gut, es scheint mir Tod wie Leben, Sünde wie Heiligkeit, Klugheit wie Torheit, alles muss so sein, alles bedarf nur meiner Zustimmung, nur meiner Willigkeit, meines liebenden Einverständnisses, so ist es für mich gut, kann mir nie schaden. Ich habe an meinem Leibe und an meiner Seele erfahren, dass ich der Sünde sehr bedurfte, ich bedurfte der Wollust, des Strebens nach Gütern, der Eitelkeit und bedurfte der schmählichsten Verzweiflung, um das Widerstreben aufgeben zu lernen, um die Welt lieben zu lernen, um sie nicht mehr mit irgendeiner von mir gewünschten, von mir eingebildeten Welt zu vergleichen, einer von mir ausgedachten Art der Vollkommenheit, sondern sie zu lassen, wie sie ist, und sie zu lieben und ihr gerne anzugehören.

Diesen Text aus dem Schlussteil lese ich in ähnlicher Weise wie das Gedicht "Stufen" als das Bekenntnis Hesses zum Leben. Das Leben zu verstehen, bereitet dem Denken große Schwierigkeiten, weil das Denken in polaren Begriffen voranschreitet und immer nur das eine gültig sein kann auf Kosten des anderen. In der essentiellen Wahrheitserfahrung der Meditation dürfen die Gegensätze aber bestehen bleiben. Ja, eines Tages kommt (vielleicht im Anschluss an Heraklit) die Einsicht, dass sie sich bedingen, sich ergänzen und auf die Mitte zielen, die sie aufnimmt und in das Dasein des Augenblicks überführt. 
Auch wenn "Siddhartha" in der Nähe einer Heilen-Welt-Ideolgie angesiedelt werden kann, weil die Erzählung die Flucht aus der Wirklichkeit zum Thema hat, kann das Buch doch für das Finden des eigenen Weges eine unerhörte Begleitung darstellen. Es kann den Weg weisen und es kann ein Stück Heilung vermitteln.

© Dr. Johannes Heiner