Dr. Johannes Heiner, März 2004
Beachten Sie auch die Publikation "Wege ins Dasein. Spirituelle Botschaften der "Duineser Elegien" von Rainer Maria Rilke."
(Die Zahlen bezeichnen die einzelnen Strophen. Die Nummern hinter den Sätzen verweisen auf den Anmerkungsteil.)
"einer großen Schwermut" - Mit diesem Absatz scheint der Dichter seinen zuvor aufgestellten Behauptungen über das "reine" Bewusstsein des Tieres zu widersprechen. Jetzt kennt das Tier plötzlich das Gefühl der "Schwermut" und die "Erinnerung" an einen glücklicheren Zustand. Man kann aber auch anders argumentieren. Man könnte sagen, dass der Blick des Dichters nun noch mehr die Tiefe schaut und dort Dinge entdeckt, die dem Tier nicht bewusst, die aber trotzdem vorhanden sind. Auf den ersten Blick verkörpert das Tier das Bewusstsein der Gegenwärtigkeit. Auf den zweiten Blick teilt es das Los der Evolution in der Schöpfung.
"Hier ist alles Abstand und dort wars Atem" - Das bewusste Atmen verlangsamt den Lebensrhythmus. Die Dinge werden bewusster wahrgenommen. Im Atmen kann der paradiesische Urzustand neu erfahren werden. "Abstand" meint die Distanzierung, die durch das Denken eingetreten ist. Die mystische Erfahrung des Atmens kann in einen Bereich hineinführen, wo Alles (noch oder wieder) in Ordnung ist. Erinnert sei an Rilkes Erfahrung im Garten von Schloss Duino. Er schreibt u.a.: "Damals schloß er die AugenÖund es ging das Unendliche von allen Seiten so vertraulich zu ihm über, daß er glauben durfte, das leichte Aufruhn der inzwischen eingetretenen Sterne in seiner Brust zu fühlen". "Nach der ersten Heimat ist ihm die zweite zwitterig und windig."- Der Satz bezieht sich auf das Tier als Subjekt. Er schließt aber auch den Menschen und sein Evolutionsschicksal mit ein. Der Mensch befindet sich auf der Suche nach seiner "dritten Heimat", so könnte man es ausdrücken. Das Bewusstsein des Tieres widerspiegelt für den Dichter der achten Elegie sowohl die erste, vergangene, als auch die dritte und zukünftige Heimat.
"O Seligkeit der kleinen Kreatur" - Der Sänger setzt seinen Gang durch das Reich der Natur fort und wendet sich den immer kleineren Tieren zu. In die Darstellung des Bewusstseinszustandes der Tiere mischt sich die Bewunderung des Dichters für sie.
"Schooß ist alles" - Rilke findet hier eine prägnante Formulierung für die rückwärts gewandte Sehnsucht des Menschen nach ganzheitlicher und Sinn machender Erfahrung. Die Philosophie A. Schulers hat diese Momente des nicht-entfremdeten Bewusstseins heraus gearbeitet. Rilke hat sie vor dem Hintergrund seiner Stille-Erfahrung im Garten von Duino in einer mystischen Richtung ergänzt. Mit "Mystik" meine ich hier die Erfahrung der Zeitlosigkeit jenseits des Denkens.
"eine Seele der Etrusker" - Die Etrusker haben im Vogelflug die Verwandtschaft mit der Seele des Menschen erkannt.
"durchs Porzellan des Abends" - Die Fledermaus schwirrt in irrem Flug durch die Abenddämmerung. Der Vergleich mit einem "Riss" liegt nahe.
"und nie hinaus" - Zurück in den paradiesischen Urzustand oder mystisch in den Bereich der Zeitlosigkeit. Rilke hat eine seiner Erfahrungen selbst beschrieben (siehe den Text "Erlebnis I"). Er verwendet dort schon den Begriff des "Offenen". Man sollte die mystische Dimension des "offenen Lebens" (Wahrnehmung der Einheit ohne das Denken) und die mythisch-historische (paradiesischer Urzustand, goldenes Zeitalter usw.) auseinander halten. Beide "Dimensionen" entspringen der Suche des Menschen nach einer neuen Heimat.
"umgedreht" - Am Anfang der 1. Strophe hieß es: "unsere Augen sind wie umgekehrt" und "das frühe Kind wenden wir um" Der Schluss beklagt, dass der Mensch zu sehr mit "Abschied" beschäftigt sei und dadurch die Chance verpasst, wirklich da zu sein. Nicht nur die Tiere sind umgewendet und die Kinder umgedreht (s. dazu ausführlicher am Ende der vierten Elegie); auch die Menschen leiden unter der Entfremdung von sich selbst.