2. Die „Mitte“ der „Kugeln“

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Ich führe das Bild von den Kugeln weiter aus. Jede Kugel hat eine unsichtbare Mitte, aus der sie Kraft und Gestalt bezieht. Im Christentum bestand diese Mitte, wie schon angedeutet, in den Schriften der Mystiker. Sie suchten nach der Erfahrung der Vereinigung mit Gott und fanden sie in der unio mystica. Neuere Forschungen belegen, dass die Gedanken der christlichen Mystiker und die des buddhistischen Nirwana sehr ähnlich sind. Es geht in beiden Religionen um die Erleuchtung des Herzens, das sich von allen Anhaftungen an weltliche Belange befreit und sich voll und ganz auf „Gott“ konzentriert in der Erwartung einer gnadenhaften Erfahrung. Als Hesse seine Chinesen studierte, fand er in der Vorstellung des Tao die christlichen und buddhistischen Aspekte der Transzendierung der Ichkräfte bestätigt. Der Weise ist für den Hesse des „Glasperlenspiels“ ein Mensch, der das Tao in seinem Nichttun verwirklicht.

Hesse hat die Äquivalenz dieser mystischen Vorstellungen in den genannten Kulturkreisen mit zahlreichen Äußerungen belegt und hervorgehoben. Was noch wichtiger ist, er hat Gestaltungen gegeben, die es uns erlauben, mit den Figuren zu leben, sie anzuschauen und zu fühlen. Im „Glasperlenspiel“ erleben wir gleich zwei Ausprägungen der Figur des Weisen: zum einen den „Älteren Bruder“ im Bambusgehölz; zum anderen den Altmusikmeister in einer, wie ich finde, noch überzeugenderen Darstellung. Josef Knecht stirbt zu jung, um in den Tempel der ehrwürdigen Weisen Eingang zu finden. Aber er war auf dem Weg dorthin. Hesse hat den Werdegang Josef Knechts als „Stufen des Erwachens“ dargestellt. Ich habe diesem Thema einen eigenen Vortrag in Calw gewidmet (siehe „Stufen des Erwachens“).